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Monday, November 23, 2020

Gibt es eine Rechtspflicht zu leben? - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Es ist das richtige Dilemma zur falschen Zeit: Würde das neue Theaterstück von Ferdinand von Schirach die moralischen Herausforderungen einer sogenannten Triage behandeln oder die Frage nach der gerechten Verteilung eines knappen Impfstoffes stellen, wäre es das, was es sein will: ganz nah dran am Puls der gesellschaftlichen Debatte. Aber mit dem Thema der Sterbehilfe, des eigenwillig entschiedenen Ablebens, schliddert „Gott“ knapp am aktuellen Streitpunkt der Nation vorbei. Denn gerade denken die Menschen weniger darüber nach, wie sie selbstbestimmt sterben können, als darüber, wie sie alle Vorkehrungen treffen, um nicht in Todesnähe zu geraten.

Trotzdem berührt der Stoff auf seine eigene, geschickt-greifbare Art die letzten Dinge und ist damit zeitgemäß. Im künstlerisch-intellektuellen Betrieb schaut man seit von Schirachs dramatischem Debüt „Terror“ gemeinhin abschätzig auf die Erfolgsproduktionen des schreibenden Strafverteidigers. Zu absehbar in ihrem erzählerischen Spannungsaufbau, in ihrer Dramaturgie zu populistisch finden sie viele.

Es ist auch etwas dran an der Skepsis gegenüber Schirachs kalkuliert effektvollen, schwierige moralische Fragen in knapper Dialogform aufbereitenden Texten. Die Figuren verkörpern weniger Menschen als Argumentationsweisen – das macht Schirachs Kammerspiele auf paradoxe Weise spannend und gleichzeitig vorhersehbar. Das, was 2016 bei „Terror“ funktioniert hat – die als partizipative Gewissensprüfung mit anschließender Publikumsabstimmung in Szene gesetzte Anklage eines Luftwaffen-Majors, der ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug abgeschossen hatte, das auf ein vollbesetztes Fußballstadion zusteuerte –, funktioniert auch 2020 bei „Gott“.

Der argumentative Patt ist da

Ausgangspunkt des ursprünglich erst im Theater und jetzt im Fernsehen präsentierten Moraldilemmas ist hier nicht die Frage, ob 70.000 Leben mehr wert sind als 164, sondern ob ein gesunder Mann kurz vor achtzig von seiner Hausärztin ein tödliches Medikament verschrieben bekommen darf. Schon jetzt gibt es Kritik an der zugespitzten Suggestion einer Ja/Nein-Entscheidung. In einem offenen Brief haben mehrere Psychologen und Mediziner kritisiert, der Film „entwerte die Arbeit von Tausenden in Deutschland tätigen Menschen, die engagiert mit suizidalen Menschen zu tun haben“. Darüber hinaus bewerten sie den Aufbau als tendenziös: „Wie würden die Abstimmungen nach der Aufführung ausfallen, wenn die Reihenfolge der Beiträge anders wäre?“ Es gehe nicht um die Frage, ob es ein Recht auf Suizid gebe, sondern ob es einen Rechtsanspruch gebe „auf einen assistierten Suizid“. Die Diskussion, nicht nur über den ethisch umstrittenen Sachverhalt, sondern auch über die Ethik seiner dramaturgischen Prȁsentation hat also schon vor der Ausstrahlung am Montag begonnen.

Was aber wird im Film gezeigt? Eine sanft ausgeleuchtete Berliner Bibliothek bildet den Rahmen für eine fiktive Sitzung des Ethikrates, die öffentlich stattfindet und von eindeutigen Antithesen geprägt ist. Die Aufhebung des Verbots der „geschäftsmäßigen“ Sterbehilfe durch das Bundesverfassungsgericht im Februar dieses Jahres hat nach Meinung des sterbewilligen Richard Gärtner (Matthias Habich) und seines Rechtsanwalts Biegler (Lars Eidinger) ein neues Licht auf den ärztlich assistierten Suizid geworfen. Sie plädieren für eine ethische Akzeptanz der freien Todesentscheidung mit Hilfe moderner Medizin. Gärtners Wunsch, als „ordentlicher Mensch zu sterben“, der von den erniedrigenden Erfahrungen beim Ableben seiner Frau herrührt, wird unterstützt von einer juristischen Sachverständigen (Christiane Paul), die das Persönlichkeitsrecht des Bürgers auf einen selbstbestimmten Tod im Grundgesetz verankert sieht. Es gebe nach deutscher Gesetzeslage, so lautet ihre provokative Formulierung, „keine Rechtspflicht, zu leben“. Dem widerspricht nicht nur eine Mitarbeiterin des Ethikrates (Ina Weisse) mit dem Abscheu provozierenden Verweis auf die Euthanasie, sondern auch der medizinische Sachverständige (Götz Schubert), für den eine aktive ärztliche Sterbehilfe im Widerspruch zu seinem hippokratischen Eid steht. Auf den forschen Zwischenruf des Rechtsanwalts, dass in jenem Eid ja auch geschworen werde, niemals Blasensteine zu entfernen, führt der Arzt Statistiken an, nach denen bis zu fünfundneunzig Prozent aller Suizidwilligen psychisch erkrankt und also unberechenbar seien. Der argumentative Patt ist da und das moralische Dilemma in seiner existentiellen Schärfe angeleuchtet.

Einen Höhepunkt erreicht das von Lars Kraume schlicht inszenierte Gerichtskammerspiel mit dem Auftritt von Bischof Thiel (Ulrich Matthes). Als theologischer Sachverständiger stellt er seine vom Glauben an Gottes ausschließliche Entscheidungskraft über Leben und Tod durchdrungene Haltung vor. Im Streitgespräch zwischen ihm und dem sophistisch-souveränen, aber im entscheidenden Moment doch von den festen Überzeugungen des Kirchenmannes beeindruckten Anwalt gerät der Film zu einer Metapher für die Unvereinbarkeit von Vernunft und Glaube. Wenn der Bischof im Suizid nichts als den „reinsten Egoismus“ erkennen will und als unsolidarischen Verstoß gegen die Gemeinschaft wertet, dann entgegnet ihm der Strafverteidiger – die Hand entweder am iPad oder in der Hosentasche – mit der rhetorischen Frage, wo denn genau in der Bibel der Suizid verdammt werde. Für Biegler ist menschliches Leiden sinnlos, überflüssig und medizinisch lösbar. Für den Kirchenmann aber bedeutet das ganze Leben Leiden: „Das mag in Ihren Ohren seltsam klingen und passt nicht in die Moderne“, sagt er einmal leise, „aber das Christentum ist eine Religion des Leidens. Sein Leiden empfindet der gläubige Christ nicht als Strafe, es ist Reinigung.“ Daraufhin bricht das Gespräch zwischen den beiden zusammen.

Entschieden wird diese Verhandlung über den Wert von Leben und Tod – Schirachs basisdramaturgischen Markenzeichen folgend – wieder von den Zuschauern. In diesem Fall sollen sie sich als Mitglieder des Ethikrates fühlen und per Telefon abstimmen, ob Herr Gärtner die tödliche Medizin erhalten darf. Die Entscheidung wird im Anschluss an die Verkündigung in einer „hart aber fair“-Diskussion von wirklichen Vertretern der vorgebrachten Pro- und Kontra-Argumente diskutiert. Und so sehr einen das große Brimborium – die Genrebezeichnung lautet ernsthaft „TV Event“ – abschreckt, so überzogen der mediale Überbau wirkt, es wäre ungerecht, dem Vorhaben seinen ernsthaften Bedeutungsversuch abzusprechen. Hier wird zur besten Sendezeit Wesentliches berührt. Werden herausfordernde Gedanken vorgetragen, die sich jeder schon gemacht hat oder noch machen wird. Darüber hinaus liefert „Gott“, was in der Summe nur ein Gerichtsfilm kann, nämlich viele glänzende Momente für gute Schauspieler. Von ihnen lässt man sich ins Gewissen reden und die Frage stellen: „Wem gehört unser Leben?“

Gott von Ferdinand von Schirach läuft an diesem Montag, 23. November, um 20.15 Uhr im Ersten.

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